Wagenburg Ladenwohnung und Querbelüftung – Essayfilm

Carsten Lisecki befragte Berliner über ihre Erfahrungen auf dem Wohnungsmarkt. Der eine träumt vom Loft, die andere möchte Berlin den Rücken kehren um in der Provinz ein Hotel zu eröffnen. Unter anderem kam der Mieter einer Ladenwohnung zu Wort und der Wohnvisionär Mathias Bechtold stellt seine Utopien im Setzkasten Format vor. Bei allen Protagonisten wird die angespannte Situation auf dem Wohnungsmarkt in Berlin und die damit verbundenen Ängste deutlich.

Mit der Wagenburg in die Provinz?

Eine Wagenburg Bewohnerin meines Filmes zieht nun notgedrungen ins Umland, ihre Nische „Wagenburg“ gibt es nicht mehr. Dort entstehen nun hochpreisige Woh­nungen.

Wagenburg, Ladenwohnung & Querbelüftung

mit Mathias Bechtold, Frank Schoppmeier (Kinomuseum Berlin), Henri Boit

New Urban Agenda (NUA) als Grundlage für Urbanistik

Das Thema „Wohnen“ ist im 21. Jahrhundert zur universellen Herausforderung avanciert und die „Wohnungsfrage“ somit zum Politikum. In dieser spiegeln sich die brennenden Themen unserer Zeit, wie soziale Ungleichheit, Migration und ökologische Krise.

Immer mehr Menschen werden zukünftig in Städten leben – so die einhellige Prognose. Dies erfordert interdisziplinäre Konzepte, die den komplexen Anforderungen einer sich verändernden modernen Gesellschaft Rechnung tragen.

Zeugnis dafür ist die New Urban Agenda (NUA) der UN, die im Rahmen der Habitat III Konferenz im Herbst 2016 vorgelegt wurde.1 Ein Fahrplan für nachhaltige Stadtentwicklung der kommenden zwanzig Jahre, der Antworten auf die enormen Herausforderungen der globalen Urbanisierung geben soll. Die NUA erkennt das Recht auf angemessenen Wohnraum an, aber sie gilt nur als Empfehlung, nicht als Richtlinie, weshalb die darin formulierten Rechte der Menschen auf angemessenen Wohnraum nicht einklagbar sind.

Doch wie steht es tatsächlich um die Möglichkeit des „Rechts auf angemessenen Wohnraum für alle“2 sowie weitere Grundrechte als Basis für ein menschenwürdiges Leben in den Städten der Zukunft?

In einer Serie von drei Aufsätzen von Friedrich Engels3, die er 1872 in der Leipziger Zeitung Der Volksstaat veröffentlichte, analysiert er die strukturellen Bedingungen der Wohnungsnot im Kapitalismus und polemisiert gegen reformerische Konzepte des kleinbürgerlichen Sozialismus und der Bourgeoisie. Eine vorrevolutionäre Verbesserung der Wohnverhältnisse lehnte er ab. Die Wohnungsfrage sei nicht mit architektonischen oder stadtplanerischen Konzepten zu beantworten, sondern politisch – für ihn mit dem Umsturz der gesellschaftlichen Verhältnisse.

In den anderthalb Jahrhunderten seit dem Erscheinen der Artikelreihe von Friedrich Engels „Zur Wohnungsfrage“ haben sich die von ihm beobachteten Strukturen zu einem globalen System entwickelt. Engels erklärt Wohnungsnot und Preisentwicklung, an Hand von Gründen, die der aktuellen Situation in Berlin (hoher Zuzug-geringes Angebot an Wohnungen) ähneln:

Was man heute unter Wohnungsnot versteht, ist die eigentümliche Verschärfung, die die schlechten Wohnungsverhältnisse der Arbeiter durch den plötzlichen Andrang der Bevölkerung nach den großen Städten erlitten haben; eine kolossale Steigerung der Mietspreise; eine noch verstärkte Zusammendrängung der Bewohner in den einzelnen Häusern, für einige die Unmöglichkeit, überhaupt ein Unterkommen zu finden. Und diese Wohnungsnot macht nur soviel von sich reden, weil sie sich nicht auf die Arbeiterklasse beschränkt, sondern auch das Kleinbürgertum mit betroffen hat.“4

Engels sieht aber auch in der Förderung von Wohneigentum eine Gefahr, da Besitztum politische GegnerInnen generiert:

Die gescheitesten Führer der herrschenden Klassen haben stets ihre Anstrengungen darauf gerichtet, die Zahl der kleinen Eigentümer zu vermehren, um sich eine Armee gegen das Proletariat zu erziehn.“5

Stadtentwicklung ist im 21. Jahrhundert Politikum mit prioritärem Gewicht geworden.

Aktuelle Probleme in der Stadtentwicklung

Durch steigende Mieten und Preise verändern sich die urbanen und sozialen Strukturen insbesondere in den Ballungsräumen.

Die damit ausgelöste Verdrängung einkommensschwächerer Bevölkerungsschichten führt langfristig zu Selektion und Trennung sozialer Gruppen und letztendlich zur Gentrifizierung. Bezahlbarer Wohnraum im innerstädtischen Bereich befindet sich für gering Verdienende zunehmend in weniger attraktiven Gebieten, wie in Großwohnsiedlungen, unsanierten Altbauquartieren oder an umweltbelasteten Standorten.

Nach Ansicht des Berliner Stadtsoziologen Andrej Holm sind solche Verdrängungs- und Gentrifizierungprozesse nicht länger als lokal eingrenzbare Sonderphänomene zu betrachten, sondern als der Mainstream der Stadtentwicklung.1

Verdrängungsprozesse benachteiligen nicht nur WohnungsmieterInnen, sondern auch kleine Gewerbetreibende, die durch den Wegzug ihrer Kundschaft und aufgrund erhöhter Mietforderungen ihr Geschäft aufgeben müssen.

Kunst und Urbanistik

International arbeiten auch KünstlerInnen zu diesen Themen. Die gebürtige New Yorkerin Martha Rosler z. B., beschäftigt sich in ihrem Greenpoint Projekt (2011) mit dem Verschwinden kleiner Geschäfte in ihrer Nachbarschaft in Brooklyn. Als Livestream innerhalb der Ausstellung Wohnungsfrage2 im Haus der Kulturen der Welt (HKW) gezeigt, referierte Rosler in einem Gespräch mit Nikolaus Hirsch über künstlerische Ansätze, die sowohl Obdachlosigkeit, Gentrifizierung und Immobilienspekulation als auch gemeinschaftliche Bemühungen der Bekämpfung und des Eingreifens in diese Entwicklungen aufgreifen3: Gewerbetreibende unterschiedlichster Couleurs beleben ein Stadtviertel. Die “Verhipsterisierung” schaffe ein Ghetto von Cafés, die sich alle ähneln. Der Hipster entstammt, laut Martha Rosler, der provinziellen bürgerlichen Schicht und möchte in einem ärmlich aussehenden Laden sitzen, aber dafür überhöhte Preise zahlen. Dieses Phänomen ist in vielen Großstädten weltweit zu beobachten. Mit den Hipstern kommen auch deren Eltern und Großeltern zum Wohnungskauf. Die Verdrängung der nicht zahlungskräftigen AltmieterInnen nimmt ihren Lauf. Rosler reflektiert diesen Prozess kritisch, aber sieht sich nicht als Teil von diesem, sondern als seine Dokumentaristin.

1Alles schick in Kreuzberg!?! Der Sound der Gentrification mit Andrej Holm, Vortrag im Kreuzbergmuseum am 04.11.2015

2Ebd.

3Rosler, Martha: If You Lived Here … & Greenpoint Project (via Livestream), Präsentation im Rahmen der Ausstellung: Wohnungsfrage HKW 24.10.2015

1s.a.: HABITAT III NEW URBAN AGENDA Draft outcome document for adoption in Quito, October 2016. weblink:https://www2.habitat3.org/bitcache/97ced11dcecef85d41f74043195e5472836f6291?vid=588897&disposition=inline&op=view

2https://berlinfueralle.org/index.php/2016/06/01/berlin-fur-alle-bezahlbarer-wohnraum-fur-alle/

3Erstmalig veröffentlicht in “Der Volksstaat” Leipzig 1872, Nr. 51-53, 103 und 104 s.a.: Karl Marx/Friedrich Engels – Werke. (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 18, 5. Auflage 1973, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1962, Berlin/DDR. S. 209-287.

4(Abschnitt1) http://gutenberg.spiegel.de/buch/zur-wohnungsfrage-5094/1

5Ebd.